Wie wurde die Universität St. Gallen zum Pionier für ganzheitliches Management?
Der emeritierte St. Galler Professor Dr. Emil Brauchlin leitete am Institut für Betriebswirtschaft an der Universität St. Gallen die Arbeitsgruppe, welche auf Anregung und in täglichem Kontakt mit Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Hans Ulrich das “St. Galler Management Modell” entwickelte. In seinem Beitrag‚ “Die Anfänge des St. Galler Management Modells” beschreibt er, wie es dazu kam, dass die Universität St. Gallen zum Pionier für ganzheitliches Management wurde.
Die 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts waren für die deutschsprachige BWL Jahre des Umbruchs und des Aufbruchs zu neuen Ufern. Die BWL war zutiefst zersplittert. Die Funktionsbereichslehren standen beziehungslos neben einander. In der allgemeinen BWL standen sich sozialwissenschaftliche Gesichtspunkte und das Modell des REM (Rational Egotistic Man) schroff gegenüber. Letzteres entsprach den Grundannahmen der Volkswirtschaftslehre und schloss „den Menschen aus seinen Betrachtungen aus“ (Kosiol). Es eignete sich hervorragend gerade auch für mikroökonomische Überlegungen. Es war jedoch von der gelebten betrieblichen Praxis weit entfernt. Vertreten wurde dieser Ansatz insbesondere von E. Gutenberg , einem überaus einflussreichen Autor der Nachkriegszeit, dem bereits genannten Kosiol und vielen anderen.
Das Bedürfnis nach einer Neu-Orientierung war gross. Geschürt wurde das Feuer durch den mächtigen Strom amerikanischer Literatur, welcher sich auch in das deutsche Sprachgebiet ergoss. Als Zündstoff erwies sich ferner die Wissenschaftstheorie, welche damals eine Blütezeit erlebte und im Verband der Hochschullehrer für Betriebswirtschaft e.V. zur Bildung einer besonderen (Fach-)Kommission Wissenschaftstheorie geführt hatte. Ein Ergebnis der Bestrebungen nach einer Neuorientierung war z.B. der von E. Heinen entwickelte entscheidungsorientierte Ansatz . Auch in St. Gallen wurde im Rahmen der betriebswirtschaftlichen Abteilung nach neuen Wegen gesucht. Eine Anregung war z.B. die Orientierung der Betriebswirtschaftslehre an den Lebenszyklen der Unternehmung. Im Jahre 1964 fiel aber auf Grund eines Vorschlags von H. Ulrich der Entschluss, Systemtheorie und Systemdenken einem derartigen Vorhaben zugrunde zu legen.
Die Systemtheorie ist eine „interdisziplinäre Wissenschaft, die eine für alle biologischen, sozialen und mechanischen Systeme geltende formale Theorie zu entwickeln bestrebt ist.“ Sie ist eng mit dem Namen L. von Bertalanffy verknüpft. Dieser war Biologe, hat als solcher aber eine Dissertation über den Philosophen, Naturforscher und Kardinal Nikolaus von Cues (1401 bis 1464) geschrieben, der seinerseits wiederum von Plato stark beeinflusst gewesen war. Die von L. von Bertalanffy und anderen entwickelte Systemtheorie versprach unter dem Motto „Unity of Science“, ganz verschiedene wissenschaftliche Disziplinen mit ihren unterschiedlichen Perspektiven zusammenzufassen und Disziplinen-übergreifende gesetzesmässige Aussagen machen zu können. Damit verbunden war naturgemäss das Streben nach einer Sicht auf das Ganze, welche auf dem alten Motto von Lao Tse aufbaut: „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“. Diese Sicht auf das Ganze betonte auch stark die Bedeutung der Beziehungen zwischen den einzelnen Teilen, welche das Ganze bilden. Das Systemdenken bildete und bildet einen Gegenpol zu dem auf Descartes zurückgehenden Reduktionismus, welchem die Naturwissenschaften so viel verdanken. Eine Ergänzung fand die Systemtheorie in der ungefähr gleichzeitig entwickelten Kybernetik, welche massgebende Impulse von N. Wiener empfing. Sie befasst „sich insbes. mit der Informationsverarbeitung in dynamischen Systemen und mit deren Regelung und Steuerung“. Systemtheoretisch-kybernetische Aussagen können sich, wie gesagt, auf alle ganzheitlichen Systeme, aber auch auf grössere Teilmengen von Systemen beziehen, so auf lebende Systeme, auf menschliche Gesellschaften und auf Unternehmungen.
Eine erste Frucht des Strebens, die Systemtheorie der BWL nutzbar zu machen, stellte das 1968 erschienene Lehrbuch von H. Ulrich „Die Unternehmung als produktives soziales System“ dar. Auf diesem baute in der Folge der Unterricht an der HSG auf.
H. Ulrich wollte die systemorientierte Betriebswirtschaftslehre nicht allein der Ausbildung von Studierenden zugrunde legen. Vielmehr sollte das systemorientierte Gedankengut auch direkt in die unternehmerische Praxis getragen werden. Zu diesem Zweck wurde in den Jahren 1970 bis 1973 unter der Leitung von H. Ulrich ein grosses, von der Wirtschaft unterstütztes Projekt: „St. Galler Management-Modell“ realisiert. Dessen Ziel war es, einen zweiwöchigen Kurs für Manager unter dem Leitmotiv „Systemorientiertes Management“ aufzubauen. Finanziert wurde das Projekt von einem „Förderkreis“, der sich aus ca. 20 Unternehmen zusammensetzte und ungefähr eine Mio. CHF aufbrachte. Mit diesen Mitteln konnten 10 bis 12 Doktoranden und Dr. W. Krieg finanziert werden, welche “vollamtlich“ an dem Projekt arbeiteten. Der Schreibende hatte die administrative Leitung inne. Als Arbeitsstätte stand eine grossräumige, ältere Wohnung an der St. Jakobsstrasse zur Verfügung.
Die Begeisterung und das Engagement aller Beteiligten waren unermesslich. Schon im Jahre 1972 konnte als erstes Ergebnis der Arbeit die Schrift von H. Ulrich und W. Krieg: „Das St. Galler Managementmodell“ publiziert werden. Es bildete den Rahmen für alle weiteren Arbeiten am Projekt. Rückblickend darf allerdings eine Schwäche der Projekt-Realisierung nicht verschwiegen werden. Die erarbeiteten Unterlagen waren stark theoretisch orientiert. Sie waren intellektuell zwar herausfordernd, entsprachen aber den Bedürfnissen der Praxis nur teilweise. Ein Testkurs, zu welchem Vertreter der Firmen des Förderkreises eingeladen waren, fiel, um die Theatersprache zu verwenden, durch. Die Präsentationen wurden als allzu akademisch empfunden.
Aus den Fehlern wurde indessen rasch und nachhaltig gelernt. Das Praxisdefizit der Unterlagen wurde mit aller Energie behoben. Schon bald, wenn ich mich recht erinnere war es im Frühjahr 1973, wurde das St. Galler Management-Modell in einer öffentlichen Veranstaltung in der Aula dem allgemeinen Publikum vorgestellt. Einzelne Präsentationen waren ausgezeichnet. Das verbesserte die Erfolgschancen des neuen Marktangebots entscheidend. Im selben Jahr 1973 widmete zudem das ISC seine Mai-Tagung dem Thema „Systemorientiertes Management“. Auf diese Weise konnte das St. Galler Gedankengut einem breiten, internationalen Kreis zugänglich gemacht werden.
Aus organisatorischer Sicht wurde zum Zweck der weiteren Verbreitung des St. Galler Management-Modells eine eigene Stiftung mit dem Namen „Management Zentrum St. Gallen“ gegründet. Die Geschäftsführung dieses Zentrums wurde von C. Pümpin übernommen. Dieser war eben zu jener Zeit auf Grund eines Antrags von H. Weinhold habilitiert worden. Er hat seine Aufgabe bis 1978 mit Bravour wahrgenommen. Sein erster, von der HSG finanzierter, Assistent wurde Günther Pipp. Dieser hatte C. Pümpin in allen seinen Aufgaben zu unterstützen. Dabei wirkte er auch bei der Praxisverbreitung des St. Galler Management-Modells an erster Stelle mit.
Das Projekt St. Galler Management-Modell war, wie ausgeführt, dazu bestimmt, das Gedankengut des systemorientierten Managements durch Ausbildungsveranstaltungen in die Praxis hineinzutragen. Parallel dazu und im Anschluss daran wurde die Thematik „Systemorientiertes Management“ durch eine grosse Zahl von Diplomanden, Doktoranden und Habilitanden unter der Leitung von H. Ulrich bearbeitet. Die Dissertation von W. Krieg ist bereits erwähnt worden. Vor allen weiteren anderen Arbeiten ist an dieser Stelle auf die Gemeinschaftsdissertation der Forschergruppe „Systemmethodik“ hinzuweisen. Diese war im Herbst 1972 aus drei Doktoranden gebildet worden. Alle drei hatten in den Jahren 1970/1971 bei H. Ulrich ihre Diplomarbeit verfasst. Zwei von ihnen, nämlich F. Malik und K.-H. Oeller, hatten dabei bereits systemtheoretische Themen bearbeitet. Gemäss den auch noch heute geltenden Regeln war es möglich, dieser im Herbst 1972 gegründeten Forschungsgruppe „Systemmethodik“ die Ausarbeitung eines einzigen Werks zu übertragen. Dieses umfasst zwei Bände und gibt im ersten, von F. Malik verfassten ersten Band eine „Einführung in die Problematik der Systemmethodik“ und stellt „Kybernetische Grundlagen der Systemmethodik“ dar. Im zweiten Band entwickeln P. Gomez und K.-H. Oeller unter dem Titel „Die lenkungsorientierte Systemmethodik“ eine „Abfolge von Verfahrensschritten bei der Bearbeitung von Problemen im Kontext soziotechnischer Systeme.“ In diesem Umfeld schrieb auch G. Pipp seine von C. Pümpin und H. Ulrich betreute Dissertation mit dem Titel: „Systemorientierte Produkteinführung: Lösungsmöglichkeiten unter Zuhilfenahme kybernetischer Verstärkungsmechanismen“, in deren Zentrum ein „organisches Lenkungssystem“ gesetzt wird.
Die Systemtheorie hat unzweifelhaft das Tor zu einem ganzheitlichen Konzept des Managements weit geöffnet. In Pausengesprächen hat aber H. Ulrich mehrfach ausgeführt, das St. Galler Managementmodell in der Fassung von 1972 sei letztlich nicht systemtheoretisch geprägt, sondern stelle „nur“ einen komplexen Bezugsrahmen dar. Die Erkenntnisse von Systemtheorie und Kybernetik können jedoch mit dem St. Galler Management-Modell leicht in Verbindung gebracht werden. Das gilt z.B. nur schon für die Vorstellung von eng mit einander verflochtenen Regelkreisen, ferner für die Bewusstmachung von Ungewissheit über Zukünftiges und damit für die Verdeutlichung der Grenzen von Prognosen und Planung.
In abgeänderter Form erlebt das St. Galler Management-Modell von Ulrich an der HSG gegenwärtig eine Renaissance. Private Ausbildungsstätten und Beratungsinstitutionen tragen dieses Gedankengut ebenfalls in die Unternehmungen herein. Zu den ersten dieser Gründungen gehören die je von F. Malik und G. Pipp gegründeten Business Schools. Sie bilden jedes Jahr tausende von Führungskräften auf der Basis des St. Galler Management-Modells im ganzheitlichen Denken aus. H. Ulrich, mein langjähriger Professoren-Kollege und Förderer all der oben genannten und vieler weiterer Absolventen, würde sich über diese Entwicklung sehr freuen.
St. Gallen, 6. März 2006
(Prof. em. Dr. Emil Brauchlin)
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Emil Brauchlin hat an der HSG (damals noch HHS) studiert und bestand im Frühjahr 1954 die Lizentiatsprüfung. Nach einem Jahr Assistenz am Institut für Versicherungswirtschaft, ist er in die Dienste der Winterthur Versicherungen eingetreten. Freistellungen erlaubten ihm die Ausarbeitung einer Dissertation und einer Habilitationsschrift. 1970 wurde er zum a.o. Professor und 1973 zum Ordinarius der HSG ernannt. Als solcher war er zwischen 1970 und 1988 an dem von H. Ulrich im Herbst 1954 gegründeten Institut für Betriebswirtschaft tätig. Dabei konnte er die Entwicklung des system-orientierten Managements an der HSG aus nächster Nähe verfolgen. Später gründete hat er die Forschungsstelle für Internationales Management an der HSG, die er bis zu seiner Emeritierung leitete.Von 1991 bis zum heutigen Tag engagierte er sich für die Verbreitung des ganzheitlichen St.Galler Management-Ansatzes in seiner Funktion als Beirat, Dozent und Prüfungsexperte im Rahmen der Institutionen der St.Gallen Group of Business Schools.